Chate’u Israel gehört zu den Konzepten innerhalb des jetzigen Judentums, die mir in den vergangenen Jahren immer plausibler wurde und das beschrieb, was ich intuitiv annahm. Mit diesem kleinen Artikel möchte ich kurz darauf eingehen, was denn das überhaupt soll und wo das Prinzip herkommt.

Die beiden Pole der Überlieferungsgeschichte der Torah im heutigen Judentum sind ja bekanntermaßen: Direkte Übermittlung an Mosche (mit all ihren Schattierungen ist dies die Sicht der Orthodoxie) und die Redaktion eines Textes aus verschiedenen Quellen (die sogenannte „Dreiquellentheorie” die in großen Teilen des liberalen Spektrums Anhänger findet).

Die rabbinische Tradition hat foruliert, daß die am Sinai geoffenbarte Tora auch schon die spätere Auslegung mitenthält, die Auslegung also schon mit dem Bibeltext mitgegeben ist und an dessen Autorität teilhat. Damit ist klar, dass die Torah ausgelegt werden muß und das man sich wörtlich häfufig nicht nehmen darf oder soll: „Drehe und wende sie; denn alles ist in ihr” (Abot 5,25).

In seinem Buch “Peshat and Derash” weist Rabbiner David Weiss Halivni darauf hin, dass in nicht wenigen Fallen die wörtliche Bedeutung eines Verses (Peschat) mit der rabbinischen Auslegung oder einen Midrasch (Derasch) auseinander läuft:

“The peshat, or the strict philological and syntactical meaning of a verse, is in certain instances forsaken by the rabbis in their attempt to tighten the link between practical halakha and its scriptural foundation. This discrepancy between peshat and derash, between plain meaning of a verse that is dictated by content and context and rabbinic exegesis that sometimes seems only loosely connected to the text, has been troubling to readers within and without the tradition. This problematic phenomenon of rabbinic literature has itself generated a steady stream of commentary of different sorts - critical, apologetic, and scholarly.” (Seite 128).

“The belief in the divinity, though not the textual immaculacy, of the Torah and in the authoritativeness of the rabbinic tradition that illuminates it must be replenished. In the modern world that is skeptical of the historicity of revelation, or at least of its substantive content, the more pressing concern of Jewish (traditionalist) theology must be to safeguard the authenticity of the midrashic tradition; that is, the content (and not the textual carrier) of revelation … Though the divine text itself is no longer perfect, the tradition tbat attends and clanfies that text is” David Weiss-Halivni., From Midrash to Mishnah: Theological Repercussions and Further Clarifcations of “Chate’u Yisrael”, in: M.Fishbane (Hrsg.), The Midrashic Imagination. Jewish Exegesis, Thought, and History, Albany 1993, 23-44, 35.

Warum benötigt der Text der Torah so häufig eine „Revision” aus dem Midrasch? Denken wir doch an die Erklärung von „Ajin tachat Ajin” aus Exodus 21:24! Hier ist die rabbinische Interpretation praktisch die “offizielle” Lesart. Halivni schlägt nun vor anzunehmen, dass an solchen Stellen in der Torah eine “Wiederherstellung” des Textes gegeben haben muss und zwar an den Stellen, an denen der Text beschädigt worden ist und zwar durch „Chate’u Yisrael” (den „Sünden Israels”), begangen durch Götzendienst und Vernachlässigung des Textes in der Zeit nach Mosche:

What this theory implies is that, in these instances, the uncorrupted Torah actually originally did say derash, and that the peshat of our current text is fallacious, a reality which necessarily prompted the corrective, but essentially restorative, activity of midrash. (Seite 133)

Erst Ezra habe die nötige Autorität gehabt um den verlorenen Text wieder herzustellen; jedoch natürlich auch nicht vollständig zufriedenstellend. Im Buch Nehemiah wird ja davon auch erzählt. Ezra findet dort eine Torah-Rolle “wieder”. Seine Einführung einer öffentlichen Torahlesung als “Neuerung” scheint auch zu implizieren, dass dies zuvor nicht stattfand und man recht “lax” mit dem Text der Torah umgegangen ist. Um seinen Standpunkt zu stärken, zitiert Halivni aus dem Traktat Sanhedrin (21b -22a):

Mar Sutra, oder wie andere sagen, Mar Ukba sagte: Ursprünglich wurde die Torah in hebräischen Buchstaben und in der heiligen Sprache an Israel gegeben; in der Zeit von Ezra wurde die Torah in assyrischer Schrift und aramäischer Sprache übergeben. Letztendlich wählten sie für Israel die assyrische Schrift und die hebräische Sprache… Es wurde gelehrt: R. Jose sagte, wäre Mosche nicht vor Ezra gekommen, so wäre Ezra würdig gewesen, die Torah für Israel zu empfangen. Von Mosche steht geschrieben “Und Mosche ging hinauf zu HaSchem” (Exod. 19:3) und von Ezra steht geschrieben: “Er, Ezra, ging hinauf nach Babylon” (Ezra 7:6). Und “hinaufgehen” des ersten bezieht sich auf den Empfang des Gesetzes - so wie das “hinaufgehen” des letzteren [Zitats]… Und doch nicht wurde die Torah durch Ezra gegeben, ihre Schrift wurde durch ihn geändert…. Es wurde gelehrt: Rabbi sagte: Die Torah wurde Israel in assyrischer Schrift gegeben. Doch als Israel gesündigt hat (schechate’u) wurde dies in Ro’atz geändert. Aber als sie büßten, wurden die assyrischen Buchstaben wieder eingeführt. R. Schimon b. Eliezer sagte für R. Eliezer b. Parta, der mit der Autorität von R. Eliezer von Modi’im sprach: Diese Schrift änderte sich niemals.

Kurz gesagt: Die Torah wurde zwar an Mosche am Sinai gegeben, doch der Text ging teilweise verloren und konnte später erst durch Ezra wiederhergestellt werden… Das dadurch enstehende Wechselspiel zwischen Pschat und Drasch hat zahlreiche Implikationen auf die Halachach (deshalb lohnt sich für Interessierte ein Erwerb des Buches). Eine Art „Kompromisslösung” für die verschiedenen konkurrierenden Quellentheorien…