Elisabeth Berkes-Großer, die nun schon einige Male Artikel für talmud.de verfasst hat, war auch hier in der Diskssion um die Synagoge Stommeln aktiv. Ihre Kommentare zu den Postings hat sie (dankenswerterweise) nun noch einmal präzisiert, zusammengefasst und in einem großen Kontext formuliert. Der Artikel wird bald auch auf talmud.de erscheinen. Hier sehen die Leser des Blogs praktisch eine „Preview” des Artikels:

Erinnern und Gedenken kontra Betroffenheitskultur von Elisabeth Berkes-Großer

Zugegeben, auch ich habe mitgetrommelt, als mich die Nachricht über die „Kunst“-Aktion erreicht hat. Wie viele, die von dem neuen, sogenannten Kunstprojekt in Stommeln gehört haben, dachte ich zuerst, dass es sich dabei um einen schlechten Scherz handelt. In der alten Synagoge in Stommeln - im Besitz der Stadt Pulheim und bekannt für namhafte Kunstaktionen mit teilweise experimentellem Charakter - ist nun das neueste Projekt des Spaniers Santiago Sierras vorgestellt worden.

„245 Kubikmeter“ heißt die Ausstellung, das ist der Rauminhalt der Synagoge, die Herr Sierras mit Autogasen füllt, um eine aufrüttelnde Mahnung an die Shoah (er sagt natürlich Holokaust) zu initiieren.

Die Aktion wird noch dadurch verstärkt, dass nur einzelne Besucher mit Gasmasken ausgestattet und unter Aufsicht den Raum betreten dürfen. Und um das Ganze noch perfider zu machen (ja, ich weiß, es ist wichtig, klingt aber wie Hohn), müssen die Besucher eine Erklärung abgeben, dass sie auf eigene Gefahr die Synagoge betreten.

Wer, der ins Gas ging, trug Masken? Wer hat sein Einverständnis erklärt? Wer wurde beschützt?

Verursachte das Gas die Emotionen, von denen die Besucher erzählen? Vielleicht. Aber es können andere Gründe gegeben haben .Das Tragen einer Gasmaske löst Beklemmung aus, die Geräusche durch das Einführen der Abgase sind stark, die Einsamkeit im Raum ist nicht für alle erträglich, Panik ist vorprogrammiert. Ist das die gleiche Panik, die die Vergifteten hatten? Ist das nicht eine ganz natürliche Panik, die in dieser Situation jeden ergreift und die auch unkontrollierbare Reaktionen auslösen kann? Wie leicht ist es, eine emotionale Empfindung für die eigenen Zwecke umzudeuten, Herr Sierras.

Das, das hat mit Auschwitz nichts zu tun, Herr Sierras!

Ist das Erinnern und Mahnen, Herr Sierras?

Erinnern und Gedenken sind Grundpfeiler des jüdischen Lebens. Wir erinnern uns dessen, was gewesen ist und gedenken der Opfer. Sie sind ein Teil von uns, gehören zu unserem Leben so wie auch wir zum Leben der nachfolgenden Generation gehören werden. Im Jahreszyklus der Synagoge stehen wir gemeinsam auf und rufen viermal im Jahr gemeinsam Jiskor. Die Gemeinde steht zusammen und denkt an die, die nicht mehr bei uns sind. An Familienangehörige, Verwandte, Freunde und an die, deren Namen schon gar nicht bekannt sind. In unseren Gedanken haben die Opfer der Verfolgung der Jahrhunderte und diejenigen, die ihr Leben für den Staat Israel gegeben haben, immer einen Platz . Am Todestag unserer Familienangehörigen nennen wir ihre Namen und sagen das Kaddisch, unterstützt von den Anwesenden Mitbetern. Menschen kommen und gehen, das Sterben gehört zum Leben. Die, die gelebt haben und die, die Opfer waren, werden nicht vergessen.

Unser Gedenken und Erinnern ist etwas Spezielles, eine jahrhundertalte Tradition, gewachsen durch Not und Verfolgung und aus dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren.

Wir haben eine Erinnerungs- und Gedächtniskultur, die uns auf der ganzen Welt universell verbindet.

In Deutschland wird seit Jahren der Versuch unternommen, eine eigene Art des Erinnerns und des Mahnens zu installieren. An Stelle der Vorkriegszeremonien, bei denen Kriegerdenkmälern die offiziellen Vertreter von Staat und Gesellschaft Reden hielten, sind Mahnmale und KZ-Erinnerungsstätten getreten. Sauber, gepflegt, strukturiert und gut erläutert. Wen wundert es, daß bei vielen Besuchern nur ein Staunen und ein respektvolles Verhalten zu beobachten ist. Aber was wird erwartet?

Seit einigen Jahren kursiert bei den verschiedensten Anlässen ein neuer Begriff, der Begriff der Betroffenheit. Ich habe den Eindruck, dass es in Deutschland eher einen „Betroffenheitskult“ gibt, statt ein Erinnern und Gedenken. Aber ist Betroffenheit nicht nur eine Momentaufnahme? Der Begriff wird mittlerweile durch den inflationären Gebrauch pervertiert. Sie taucht auf und wird von anderen Empfindungen überlagert. Es nützt auch nicht die Betroffenheit, die uns gegenüber immer wieder mit dem Hinweis auf „diese schrecklichen Zeiten“ geäußert wird. Ich erlaube mir zu bemerken, dass ich häufig das Gefühl hatte, ich müsste jemanden für die Vergangenheit entschulden. Bedauere, aber wir erteilen keine Absolution. Da nützen auch nicht die Kränze, die regelmäßig zu verschiedenen Anlässen von ranghohen Personen an Gedenkstätten niedergelegt werden. Nur solche Aktionen sind wirkungsvoll, in denen eine bewusste Auseinandersetzung stattfindet und in denen eine nachhaltige Einstellung zu der Vergangenheit, auch im Hinblick auf die Zukunft, angelegt sind.

Ja, auch ich habe fleißig „getrommelt“. Bis auf eine abweichende Reaktion hörte ich nur Empörung aus meinem Bekanntenkreis zu dieser zweifelhaften Aktion

Aber was passierte?

Es gab glücklicherweise Stimmen aus der Bevölkerung und von offizieller Seite, die dazu geführt haben, dass die Aktion wenigstens für den kommenden Sonntag ausgesetzt wird, auch wenn die Verantwortlichen die Unmut nicht verstehen, es bleibt also abzuwarten, was aus diesem Skandal wird.

Und was nun? Die „institutionellen“ Juden werden befragt und geben ihre Stellungnahme ab, die Meinung der Bevölkerung spaltet sich und was machen wir? Eigentlich sind wir, die übrigen Juden, deren Angehörige keine Gasmasken hatten und nicht von helfenden Feuerwehrleuten betreut wurden, gefordert, unsere Gefühle mitzuteilen.

Wieso Gas in einer Synagoge? Will Herr Sierras das den toten Juden noch einmal antun? Warum sucht er nicht einen anderen Ort aus, einen Bus, eine Kirche, das Rathaus von Pulheim? Das trifft. Das ist der bekannte Alltag, da wird die eigene Person gepackt. Statt dessen müssen wieder die Ermordeten für eine fragwürdige Aktion herhalten und eine ehemalige Synagoge scheint dafür passend zu sein. Über tote Juden kann man trauern, da kann man Betroffenheit zeigen. Schließlich hat man ja nie selber den Gashahn aufgedreht und „Opa war kein Nazi“ (H. Welzer u.a. Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus im Familiengedächtnis Frankfurt 2002).

Ja, ich bin wütend, ich bin empfindlich und es macht mir gar nichts aus, wenn es in der Bevölkerung heisst, der Zentralrat ist wieder einmal beleidigt. Sicher ist, dass der Zentralrat eine Organisation ist, die sich einmischt, die gehört wird und es ist gut, dass es eine offizielle Stimme gibt – wenn auch nicht immer zu meiner Freude. Es ist genauso gut, dass es auch mittlerweile die bekannte Riege der aufmüpfigen Juden gibt, die sich immer wieder zur Wort meldet – wenn auch nicht immer zu meiner Freude. Und ich wünsche mir, dass auch wir endlich aus der Versunkenheit auftauchen und offen unsere Meinung sagen. Auch, wenn wir ständig mit dem Vorwurf des Beleidigtseins konfrontiert werden.

Mahnung und Präsenz ist unser Auftrag. Denn es gibt nicht nur tote Juden. Wir sind auch noch da. Wir erinnern und gedenken.