Aus meiner improvisierten Draschah zu Schabbat Schuwah in der Synagoge Bork ( http://ruhrminjan.talmud.de ) habe ich eine etwas längere Ausführung gebastelt:

Herr K. wird an seinem dreißigstem Geburtstag plötzlich in seiner Wohnung verhaftet. Er solle in seinem Zimmerwarten, ein Verfahren sei eingeleitet worden. Natürlich erkundigt sich K. nach dem Anklagegrund. Der zu ihm gesendete Aufseher sagt, er wisse es selber nicht.

Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird wie im Gesetz heißt von der Schuld angezogen und muß Wächter ausschicken. - Seite 14 Die Seitenangaben beziehen sich auf: Der Proceß , Franz Kafka, in der Fassung der Handschrift, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1994

Im ersten Kapitel wird dann das Zimmer K.s beschrieben; unter anderem wird auch erwähnt, dass K. sich Äpfel und Honig bereitgelegt hat. Seine erste Untersuchung findet exakt zehn Tage später statt, in einem Raum, der an eine Synagoge erinnert:

K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leute – niemand kümmerte sich um den Eintretenden – füllte ein mittelgroßes zweifenstriges Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls vollständig besetzt war und wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und Rücken an die Decke stießen. […] Zwischen zwei Männern hindurch, die sich unmittelbar bei der Tür unterhielten – der eine machte mit beiden weit vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldaufzählens, der andere sah ihm scharf in die Augen – faßte eine Hand nach K. Es war ein kleiner rotbäckiger Junge. “Kommen Sie, kommen Sie”, sagte er. K. ließ sich von ihm führen, es zeigte sich, daß in dem durcheinanderwimmelnden Gedränge doch ein schmaler Weg frei war, der möglicherweise zwei Parteien schied; dafür sprach auch daß K. in den ersten Reihen rechts und links kaum ein ihm zugewendetes Gesicht sah, sondern nur die Rücken von Leuten, welche ihre Reden und Bewegungen nur an Leute ihrer Partei richteten. Die meisten waren schwarz angezogen, in alten lange und lose hinunterhängenden Feiertagsröcken. Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hätte er das ganze als eine politische Bezirksversammlung angesehn.

Im siebenten Kapitel wird der Bezug zu den Hohen Feiertagen offensichtlich, denn eine Auswirkung des Prozesses deutet der Onkel K.s an:

Willst Du den Proceß verlieren? Weißt Du was das bedeutet? Das bedeutet, daß Du einfach gestrichen wirst. - Seite 101

Unklar ist zunächst, woraus gestrichen werden soll. Wenn man den Roman jedoch konsequent in einem jüdischen Kontext liest und den Jom haDin - den Tag des Gerichts wörtlich nimmt, an dem man sich einschreiben lassen kann für das Buch des Lebens, wird klar, woraus der Verlierer des Prozesses gestrichen wird. So kann man in dem Text, die um Schuld und Urteil kreisende Liturgie wiederfinden. An Rosch HaSchanah ist es bezeichnenderweise Brauch, dass man einander wünscht in das Buch des Lebens eingetragen zu werden. Es heisst weiter, dass an Jom Kippur das Urteil besiegelt wird.

Kafka war vielleicht kein observanter Jude, hatte aber ausreichende Kenntnisse der jüdischen Religion und das er zu den Feiertagen in die Synagoge ging, kann man seinen Tagebüchern entnehmen. In seinem Tagebuch vom 7. Juli 1912 hält er fest, dass er auch auf Reisen auf der Suche nach der jüdischen Gemeinde ist:

Im Park mit kleinen Mädchen auf einer Bank, die wir als Mädchenbank gegen Jungen verteidigen. Polnische Juden. Die Kinder rufen ihnen Itzig zu und wollen sich nach ihnen nicht gleich auf die Bank setzen. Jüdische Gastwirtschaft Nathan Eisellsberg mit hebräischer Aufschrift. Es ist ein verwahrlostes schloßartiges Gebäude mit großem Treppenaufbau, das aus engen Gassen frei hervortritt. Ich gehe hinter einem Juden, der aus der Wirtschaft kommt, und spreche ihn an. Nach 9. Ich will etwas über die Gemeinde wissen. Erfahre nichts. Bin ihm zu verdächtig. Immerfort schaut er auf meine Füße. Aber ich bin doch auch Jude. Dann kann ich bei Eiselsberg logieren. – Nein ich habe schon eine Wohnung. – So. – Plötzlich geht er nahe an mich heran. Ob ich nicht vor 1 Woche in Schöppenstedt gewesen bin. Vor seinem Haustor verabschieden wir uns; er ist glücklich, daß er mich losgeworden ist; ohne daß ich danach frage, sagt er mir noch, wie man zur Synagoge geht. – Leute im Schlafrock auf der Türstufe. Alte sinnlose Inschriften. Die Möglichkeiten durchdacht, auf diesen Gassen, Plätzen, Gartenbänken, Bachufern aus dem Vollen unglücklich zu sein. Wer weinen kann, soll am Sonntag herkommen. Abend nach 5 stündigem Herumgehn in meinem Hotel auf der Terasse vor einem kleinen Gärtchen. Am Tisch nebenan die Wirtsleute mit einer jungen, witwenhaft aussehenden, lebhaften Frau. Wangen unnötig mager. Frisur geteilt und aufgebauscht.

Soweit entfernt vom Judentum, wie oft behauptet wird, war Kafka also keinesfalls. Wir wissen, dass er Hebräisch gelernt hat, zu Vorträgen in die Synagoge ging und eine ganze Zeit lang mit der orthodoxen Jüdin Dora Diamant liiert war:

In der Alt-Neu-Synagoge beim Mischnavortrag.Mit Dr. Jeiteles nachhause. Großes Interesse an einzelnen Streitfragen. 19.06.1915

Vier Jahre zuvor schreibt er über die Hohen Feiertage:

1. Oktober Mo (Sonntag 1911) Altneusynagoge gestern. Kolnidre. Gedämpftes Börsengemurmel. Im Vorraum Büchse mit der Aufschrift: “Milde Gaben im Stillen, besänftigen den Unwillen. " Kirchenmäßiges Innere. Drei fromme offenbar östliche Juden. In Socken. Über das Gebetbuch gebeugt, den Gebetmantel über den Kopf gezogen, möglichst klein geworden. Zwei weinen, nur vom Feiertag gerührt? Einer hat vielleicht nur wehe Augen, an die er das noch gefaltete Sacktuch flüchtig legt, um das Gesicht gleich wieder nahe an den Text zu halten. Nicht eigentlich oder hauptsächlich wird das Wort gesungen, aber hinter dem Wort her werden Arabesken gezogen aus dem haardünn weitergesponnenem Wort. Der kleine Junge, der ohne die geringste Vorstellung des Ganzen und ohne Orientierungsmöglichkeit, den Lärm in den Ohren, sich zwischen den gedrängten Leuten hinschiebt und geschoben wird. Der scheinbare Commis, der sich beim Beten rasch schüttelt, was nur als Versuch einer möglichst starken, wenn auch vielleicht unverständigen Betonung jedes Wortes zu verstehen ist, wobei die Stimme geschont wird, die überdies in dem Lärm eine klare große Betonung nicht zustande brächte. Die Familie des Bordellbesitzers. In der Pinkassynagoge war ich unvergleichlich stärker vom Judentum hergenommen.

Im Proceß enthalten ist auch die berühmt gwordene Parabel vom “Türhüter” vor dem Gesetz. Carolin Hannah Reese hat schon in ihrem Beitrag über Kafkas Judentum darauf hingewiesen (http://www.talmud.de/artikel/kafka.htm), dass die Überseztung einiger Begriffe, den jüdischen Leser ein ganzes Stück weiterbringt:

Auch die Übersetzung einiger von Kafka verwendeter Begriffe und Namen ins Hebräisch kann erstaunliche Ergebnisse hervorbringen: So heißt der Anwalt aus dem “Prozeß” mit Nachnamen “Huld” - die gängige Übersetzung für “Chesed”, die Eigenschaft, die nach chassidischer Vorstellung ein g’ttliches Gerichtsverfahren noch beeinflussen kann. Und der “Mann vom Lande”, der Zugang zum Gesetz verlangt, wird zum “Am Ha-Aretz”, eine häufige Umschreibung für jemanden, der die Torah nicht kennt. Womit die Frage, ob es sich um ein weltliches oder ein transzendentales Gesetz handelt, nach dem der Genannte strebt, von selbst beantwortet wäre.

Im Proceß heisst es: In den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. >Es ist möglichjetzt aber nicht. Wenn es Dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen. Ich nehme es nur an, damit Du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben. Was willst Du denn jetzt noch wissenDu bist unersättlich.Alle streben doch nach dem Gesetzwie so kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat. Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn. "

Wie verhält sich K. in dieser Geschichte? K. versucht seit seiner Verhaftung, seine “Unschuld” zu beweisen, versucht Fürsprecher zu finden, einen Anwalt (Huld, oder hebräisch eben Chesed zu verpflichten, gegen die ‘Maschinerie’ anzugehen. An den zehn Bußtagen sollen wir das Gegenteil von dem tun, was K. tut: Wir sollen unsere Fehler finden, eine Rückschau halten, uns schuldig bekennen, im Aschamnu heisst es deshalb ja auch:

Unser G-tt und G-tt unserer Vorfahren, laß unsere Gebete dich erreichen. Sei nicht taub für unsere Bitte um Erbarmen. Denn wir sind nicht so hochmütig und nicht so stur, daß wir in deiner Gegenwart, unser G-tt und G-tt unserer Vorfahren, behaupten würden, wir seinen gerecht und hätten nicht gesündigt. Vielmehr bekennen wir: Wir und unsere Vorfahren haben gesündigt.

Dann folgt eine Auflistung von Sünden derer wir uns bekennen müssen. Die Tradition lehrt aber auch, dass wir uns bei Personen entschuldigen müssen, die wir verletzt haben und so aktiv unser Leben aufarbeiten. Der von Kafka beschriebene Prozeß schildert jemanden, der es nicht geschafft hat, in das Buch des Lebens eingetragen zu werden. Es geht nicht darum, eine weiße Weste zu haben, es geht darum, sich seiner Fehler klar zu werden und bereit zu sein, darüber Rechenschaft abzulegen - zurückzukehren zu G-tt und dem Weg den er uns mit der Torah gewiesen hat. Der Schabbat zwischen Rosch haSchanah und Jom Kippur heißt deshalb ja auch Schabbat Schuwah und Schuwah kann mit Rückkehr, Umkehr übersetzt werden.

Genau ein Jahr nach seiner Verhaftung (am Erev Rosch haSchanah), wird K. hingerichtet, man könnte sagen, das Urteil vom Vorjahr wird vollstrekt. Die beklemmende Szene mag ein wenig an die Akedat Jitzchak erinnern, die Opferung Jitzchaks durch seinen Vater Abraham. Nur erhält K. in diesem Fall keine Hilfe. Im vorlezten Satz des folgenden Abschnittes fragt sich K. gar, wo seine Hilfe bleibt:

Nach Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlich dessen wer die nächsten Aufgaben auszuführen habe, – die Herren schienen die Aufträge ungeteilt bekommen zu haben – gieng der eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und schließlich das Hemd aus. K. fröstelte unwillkürlich, worauf ihm der Herr einen leichten beruhigenden Schlag auf den Rücken gab. Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie Dinge die man noch gebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit. Um K. nicht ohne Bewegung der immerhin kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er ihn unter den Arm und gieng mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere Herr den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte. Als er sie gefunden hatte winkte er und der andere Herr geleitete K. hin. Es war nahe der Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herren setzten K. auf die Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf obenauf. Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz alles Entgegenkommens, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige. Der eine Herr bat daher den andern ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.’s allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde es nicht besser. Schließlich ließen sie K. in einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfen im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem andern, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch schwach und dünn in der Ferne und Höhe beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund Ein guter Mensch? Einer der teilnahm? Einer der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.

Mögen wir alle eingeschrieben werden in das Buch des Lebens!