Tatjana kannten die meisten Schüler der Oberstufe. Die meisten männlichen Schüler jedenfalls. 16 Jahre alt, Unterstufe, rote Haare, ein freundliches, offenes Gesicht. Sie wirkte ein wenig älter als ihre gleichaltrigen Mitschülerinnen. Weil sie nicht viel herumkicherte, wirkte sie etwas fokussierter und selbstbeherrschter als ihre Altersgenossinnen. Und obwohl es hieß, sie würde nach der Schule entweder lernen, oder irgendwelche Sachen in einer Kirchengemeinde machen, so sah sie dennoch nicht so aus, als wären ihr Äußerlichkeiten unwichtig. Die meisten gleichaltrigen Schüler waren damit überfordert. Die älteren fanden es gut. Deshalb waren die älteren auch diejenigen, die versuchten, sich zumindest mit ihr zu verabreden. Man kann nicht sagen, es gab einen Wettbewerb um sie, jedenfalls keinen, den man laut ausgerufen hatte. Sie war zu jeder Party der Oberstufe eingeladen und immer kam sie auch, aber ausnahmslos alle Annäherungsversuche wurden recht souverän abgewehrt.

Dann hatte es doch jemand geschafft sich ihr zu nähern. Sie fuhr zum »Kirchentag«. Das klang offenbar harmloser, als es in Wirklichkeit ist. Dort lief sie Reinold über den Weg und der schnappte sich Tatjana. Reinold fuhr ebenfalls mit der Gruppe der Kirche mit, denn Reinold war als Aufsichtsperson dabei. Reinold war Ende zwanzig. Reinold studierte Theologie. Bevor er das Studium antrat, hatte er bereits ein Leben. Das erschien den Oberstüflern weit weg. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann hatte er ein paar Jahre bei einer Bank gearbeitet. Das scheint ihm ins Blut übergegangen zu sein. Er ging auch als Student so aus dem Haus, als würde er gleich ein wichtiges Kundengespräch führen. Nicht viele tauchten bei einer Feier zum achtzehnten Geburtstag in Anzug und Krawatte auf.

Um sich weiter abzugrenzen, lautete sein Vorstellungssatz stets: »Ich bin Reinold, ich werde bald Pfarrer.« Tatjana war sichtlich stolz darauf. Ihre Eltern tolerierten das anscheinend. Immerhin war der Mann ja fast Pfarrer. Reinold kam jetzt zu jeder Party mit. Wenn man mit Tatjana sprach, umarmte er sie immer von hinten und zog sie ein wenig zur Seite. Es war klar, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Länger sprach niemand wirklich mit ihm. Zum einen, weil er seine Finger ständig über Tatjana wandern ließ und das Zusehen unangenehm war, zum anderen, weil er mit allen Leuten sprach, als habe er einen Erziehungsauftrag. Außerdem hatte er zu den meisten Themen recht konservative Ansichten. Die einzige Ausnahme schien die Beziehung zu einem jungen Mädchen zu sein. Da war er recht progressiv.

Fast täglich holte er sie von der Schule ab. Ihren Stolz konnte man sehen, wenn er mit dem Auto vorfuhr und sie hineinsprang. Von Reinolds Stolz braucht man gar nicht zu reden.

Von nun an lernte Tatjana nicht nur für sich, sondern jetzt auch mit Reinold für sein Studium. Manchmal brachte sie Bücher mit in die Schule »Einführung in das Alte Testament« oder Lernkarten für das Hebraicum. Während sie sich durch reines Abfragen von Reinold, einen beachtlichen hebräischen Sprachschatz aneignete, rasselte Reinold zweimal durch die Prüfung für das Hebraicum. Auch die anderen Prüfungen liefen wohl nicht problemlos. Die Finger hätten wohl besser an die Bücher gehört.

Er verlor ein wenig sein Gleichgewicht. Zugleich auch sein Interesse an Tatjana. Die war mittlerweile 17 geworden und anscheinend recht selbstbewusst.

Tatjana traf ich einige Jahre nach der Schule wieder. In der Synagoge einer Nachbarstadt. Der indirekte Hebräischunterricht hatte Folgen hinterlassen und etwas in ihr in Bewegung gesetzt. Sie stand davor nach Israel zu gehen und war längst Jüdin geworden. »Schuld« daran war anscheinend Reinold mit seiner Lernerei. Die Beschäftigung mit dem Urtext fiel (zumindest) bei ihr auf fruchtbaren Boden.

Und Reinold selber? Das wusste sie auch nicht so ganz genau. Er hatte sich wohl kaum noch gemeldet. Eines wusste sie aber recht genau: Dass er wohl kein Pfarrer werden konnte, weil er die entsprechenden Prüfungen nicht schaffte. Lediglich ein Diplom in Theologie.

Betrachten wir beide Wendungen als gutes Ergebnis. Gam ze le’towah - auch das zum Guten.